Kurzinhalt:
Vivienne Michel ist in Kanada aufgewachsen, und in späteren Jahren in London auf ein Internat gegangen. Nachdem sie erste Berufserfahrungen als Journalistin gesammelt hat, kehrt sie nach einigen weniger erfreulichen Erlebnissen romantischer Natur nach Kanada zurück, um sich von dort aus mit einem Moped auf eine Rundreise durch die USA zu begeben. Als sie bei einem Motel ankommt, bieten die Besitzer ihr an, ein paar Wochen für sie zu arbeiten; so könnte sie ihre Reisekasse wieder aufstocken. Am Wochenende bevor sie das Motel über den Winter schließen reisen die Besitzer ab, und ersuchen sie, bis zum Montag die Stellung zu halten – dann kommt jemand vorbei um die Schlüssel abzuholen und alles winterfest zu machen. Nach einem heftigen Sturm stehen plötzlich zwei zwielichtige Männer vor der Tür. Wider besseren Wissens lässt sie sie herein – nur um zu bemerken, dass es sich bei Sluggsy und Horror um zwei skrupellose Gauner handelt. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch sieht sie sich in Gedanken schon tot am Boden liegen – da läutet es plötzlich an der Tür des Motels. Nach einer Reifenpanne hat es der Mann gerade noch so zum Motel geschafft, nun möchte er dort übernachten. Sein Name: Bond, James Bond…
Review:
"Der Spion, der mich liebte" ist aus der Sicht von Vivienne Michel geschrieben, und beschäftigt sich auch mehr mit ihrem Leben, ihren Empfindungen und ihren Erfahrungen – in denen James Bond zwar in weiterer Folge eine wichtige Rolle spielt, allerdings dauert es immerhin bis Seite 132, ehe er in Erscheinung tritt. Ian Fleming schreibt also einen Roman, und versucht sich dabei, in eine Frau hineinzuversetzen? Angesichts des sehr chauvinistischen Weltbilds, dass bei der "James Bond"-Reihe vorherrscht, war hier Vorsicht geboten. Und in der Tat beschreibt er eine Figur, die ich eher als Klischee empfand – oder wie die ultimative Verkörperung dessen, wie sich Ian Fleming Frauen so vorstellt. So unabhängig und "abenteuerlustig" Vivienne auch sein mag, erweist sie sich letztendlich nur als ein etwas besseres Fräulein in Nöten, dass sich von James Bond retten lassen darf. Generell gibt es einige hier geschilderte Ansichten, Gedanken und Gefühle, wo man kein Feminist sein muss, dass sich einem die Zehennägel aufstellen. Wobei dieser Kritikpunkt zumindest ansatzweise dadurch relativiert wird, dass Ian Fleming alle Männer in dieser Erzählung – mit Ausnahme von James Bond, und selbst der lügt sie am Ende eiskalt an ehe er sie auf Nimmerwiedersehen verlässt – als Schweine charakterisiert, die Vivienne ausnutzen, ihr weh tun, oder im Falle der beiden Gangster sogar versuchen, sie zu töten. Zumindest ich empfand, dass Fleming hier an der Art und Weise Kritik übt, wie manche Männer mit Frauen umgehen, was die teils vorurteilsbeladene Darstellung von Vivienne zumindest bis zu einem gewissen Grad wieder ausglich.
Schwerer wiegt da schon, dass James Bond in diesem Roman eigentlich nur eine Nebenrolle spielt. Wie bereits erwähnt tritt erst nach rund zwei Drittel des Romans überhaupt erst in Erscheinung. Und selbst dann fand ich das Geschehen wenig packend geschrieben. Das beste an "Der Spion, der mich liebte" ist noch die kurze Beschreibung einer Mission, die 007 zuvor ausgeführt hat, und die ihn auch wieder auf die Spur von SPECTRE geführt hat. Letztendlich hatte ich aber den Eindruck, dass diese Story einen deutlich spannenderen Roman abgegeben hätte. Zudem wirkte es doch irgendwie komisch, um nicht zu sagen unplausibel, dass James Bond dieser Frau so früh nicht einfach nur seine wahre Identität und seinen Beruf verraten, sondern derart frei und offen aus dem Nähkästchen plaudern und von seiner letzten Mission erzählen würde. Am schlimmsten sind aber die Stellen, an denen sich Ian Fleming – meiner bescheidenen Meinung nach mehr schlecht als recht – an einem Liebesroman versucht. Da musste ich nun wirklich mehrmals mit den Augen rollen. Schade fand ich auch, dass "Der Spion, der mich liebte" James Bond keine neuen Facetten abgewinnen kann. Man sollte meinen, die Tatsache dass wir ihn hier nur mit fremden Augen betrachten würde ihn uns irgendwie auf andere/neue Art und Weise vorstellt, aber zumindest ich konnte der Betrachtung von James Bond in diesem Roman nichts neues und/oder interessantes abgewinnen. Ein noch tieferer Absturz bleibt "Der Spion, der mich liebte" in erster Linie dank einzelner gelungener, teils sehr atmosphärisch dichter Momente erspart. So gefiel mir z.B. das Einstiegskapitel rund um den Sturm ungemein gut. Zu schade, dass der Rest des Romans diese Qualität in meinen Augen nicht mehr erreichen konnte.
Fazit:
"Der Spion der mich liebte" ist ein höchst untypischer James Bond-Roman. Tatsächlich könnte man sogar sagen, er ist genauso wenig ein James Bond-Roman, wie die James Bond-Romane Felix Leiter-Romane sind. Ja, 007 taucht nach ca. zwei Drittel des Buches auf, um den Tag (und vor allem das Mädchen) zu retten, dennoch hat er genau genommen nur eine Gastrolle inne. Denn "Der Spion der mich liebte" wird nicht nur aus der Sicht von Vivienne Michel erzählt, sondern stellt sie auch ganz klar ins Zentrum. Nach einem kurzen, atmosphärischen Einstieg nimmt ihre Vergangenheit eine (für meinen Geschmack ) große Rolle ein, ehe die beiden Gangster das Motel erreichen, und Vivienne sich als unfähig herausstellen darf, sich gegen sie zu wehr zu setzen und/oder zu fliehen. Die teils wenig schmeichelhafte Darstellung von Vivienne wurde mir dabei lediglich durch die Tatsache erträglich gemacht, dass Ian Fleming wenigstens auch die Männer nicht im besten Licht erstrahlen lässt, sondern die meisten von ihnen als egoistische Schweine offenbart. Dennoch erschien mir vieles doch sehr klischeehaft und hanebüchen. Generell hat "Der Spion der mich liebte" mehr von einem Liebes- als von einem Agentenroman. Jedenfalls kann ich dieses "James Bond-Abenteuer" nur den hartgesottensten Komplettisten unter den 007-Fans empfehlen.
Christian Siegel
Bewertung:
2/5 Punkten
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