Mit: Elizabeth Olsen, John Hawkes, Sarah Paulson, Hugh Dancy, Christopher Abbott, Brady Corbet, Maria Dizzia, Julia Garner, Louisa Krause u.a.
Kurzinhalt:
Zwei Jahre lang war Martha wie von Erdboden verschluckt. Nun ruft sie völlig verstört ihre Schwester an und bittet sie, sie nahe eines Cafés abzuholen. Lucy und ihr Mann nehmen Martha auf, doch Martha's teils irritierendes Verhalten führt zunehmend zu Konflikten. Was die beiden nicht wissen: Martha war die letzten zwei Jahre in einem Kult – und versucht nun, diese Erfahrung hinter sich zu lassen und in ein normales Leben zurückzufinden…
Review:
Trotz aller (potentieller) Highlights der diesjährigen Viennale, für die ich mir Karten sichern konnte, habe ich mich auf keinen Film so sehr gefreut wie auf "Martha Marcy May Marlene". Umso erstaunter war ich, als die Vorstellung nicht mal ausverkauft war. Erstaunt, aber nicht unbedingt überrascht, denn aus welchen Gründen auch immer flog dieses Drama – das in den USA zuletzt vor allem aufgrund der Performance von Elizabeth Olsen für Furore gesorgt hat – unter dem Radar der örtlichen Presse und Berichterstattung hindurch. Und das völlig zu Unrecht, denn für mich war "Martha Marcy May Marlene" ganz klar einer der besten Filme, die ich dieses Jahr auf diesem Filmfestival gesehen habe. "Martha Marcy May Marlene" hat mich dabei vor allem mit seiner ungemein stillen Erzählweise überrascht und beeindruckt. Er ist ein sehr ruhiges Drama, ohne jegliche Effekthascherei oder Szenen, die extra auf die Tränendrüse drücken würden.
Was ihm dabei besonders gut gelingt, ist es, uns mit Martha identifizieren zu lassen. Wenn man in Rückblenden erfährt, was sie alles durchgemacht hat, hat man unweigerlich Mitleid mit ihr. Zugleich versteht man auch ihr etwas sonderbares Verhalten und warum es ihr so schwer fällt, sich ihrer Schwester anzuvertrauen. Dies führt dazu, dass man teilweise versucht ist, wütend auf ihre Schwester zu werden, wenn diese Martha wieder einmal unter Druck setzt oder wenig Verständnis für ihr Verhalten zeigt. Zugleich muss man sich aber immer vor Augen halten, dass wir ihr gegenüber einen enormen Informationsvorsprung besitzen - würde sich Martha ihrer Schwester anvertrauen, würde sie sicherlich auch anders mit ihr umgehen. Doch aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Kult, wo sie sich diesen Menschen geöffnet hat, nur um verletzt zu werden, fällt es ihr schwer, nun überhaupt noch irgendjemandem zu vertrauen. Ebenso schwer fällt es ihr jedoch, aus während ihrer zwei Jahre in diesem Kult angeeigneten Gewohnheiten auszubrechen. In einigen Szenen merkt man, wie tief ihr bestimmte Überzeugungen eingeimpft wurden, z.B. während des Abendessen, als sie praktisch als Sprachrohr des Kults agiert und die Lebensweise von Lucy und ihrem Mann kritisiert. Zugleich hat sie in vielerlei Hinsicht das Gefühl dafür verloren, welches Verhalten in der Gesellschaft akzeptabel ist, und was nicht. Dies führt zu einigen Taten – und auch teils harten Aussagen gegenüber ihrer Schwester – die selbst mit dem Hintergrundwissen ob ihrer Erlebnisse schwer zu entschuldigen sind. Dadurch wird ein herrlich vielschichtiger Hauptcharakter geschaffen, der über eine reine Opferrolle hinausgeht.
Genau durch dieses Verhalten, dass es uns schwer macht, sie vorbehaltlos zu akzeptieren, wird aber eigentlich erst deutlich, wie sehr Martha durch ihre Erlebnisse verletzt wurde. Wie tief die Wunden sind, die ihr durch Patrick und seinen Kult zugefügt wurden. Offenbart wird uns dies in kongenial platzierten Rückblenden, die oftmals Ereignisse in der Gegenwart wiederspiegeln oder rückwirkend ein zuvor nicht nachvollziehbares Verhalten erklären, wodurch es uns zumindest möglich ist, ihr Verhalten wenn schon nicht nachvollziehen oder gar entschuldigen, wenigstens verstehen zu können. Noch schlimmer als die psychische Gewalt, die sie teilweise ausgesetzt wird, ist jedoch die psychische Folter und Indoktrination, der sie ausgesetzt ist. Die Sachlichkeit, mit der Regisseur und Drehbuchautor Sean Durkin einige der schrecklicheren Momente ihres zweijährigen Aufenthalts – allen voran den ersten "Besuch" von Patrick und das darauffolgende Gespräch mit einer Mitbewohnerin – behandelt und schildert, steht dabei in krassem Widerspruch zur Abscheulichkeit dieser Taten, schafft es aber durch diesen nie melodramatischen und immer realistischen Zugang, um so größere Wirkung zu entfalten und noch erschreckender zu wirken.
Im Gegensatz zu "Red State" macht man hier jedoch nicht den Fehler, sich nur auf die grauenhafte Aspekte des Kults zu konzentrieren, sondern versucht zudem begreiflich zu machen, was diese jungen Frauen an dieser Gemeinschaft und allen voran ihren charismatischen Anführer Patrick so fasziniert und anzieht. Einen großen Beitrag dazu liefert der wieder einmal phantastische John Hawkes, der Patrick gleichermaßen charismatisch-verführerisch wie gefährlich-einschüchternd darstellt. Zugleich schafft es der Film ab der ersten Minute, dass wir uns mit Marcy identifizieren und mit ihr mitfiebern und mitfühlen. Allein daran, wie verängstigt sie aus dem Kult entflieht, sowie ihr geschockt-verschreckter Eindruck als sie kurz danach im Café von einem der Kultmitglieder aufgegriffen wird, macht uns deutlich, in welcher Gefahr sie schwebt. Und spätestens wenn sie unmittelbar darauf ihre Schwester anruft und sie praktisch anfleht, sie abzuholen, ist uns klar, was auf dem Spiel steht. Es ist ein packender, ungemein effektiver Beginn, in dem uns Sean Durkin unvermittelt in seinen dramaturgischen Würgegriff nimmt – und danach keine Sekunde mehr loslässt. Wir sind in und mit Martha gefangen, und erleben ihre verzweifelten Versuche, die schrecklichen Ereignisse der vergangenen zwei Jahre hinter sich zu lassen. Als sie schließlich davon überzeugt ist, verfolgt zu werden, und befürchtet, man hätte sie gefunden, hat es Durkin längst geschafft, uns in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinzuziehen. Wird sie wirklich verfolgt, oder ist dies nur Ausdruck ihrer Angst? So wie Martha können wir uns dessen nie sicher sein – wir sehen was sie sieht, hören was sie hört, fühlen was sie fühlt. Alles darüber hinaus bleibt ihr wie uns verborgen.
Dass wir uns so stark mit Martha identifizieren, dass wir uns so wie sie nach ihrer Flucht kaum mehr sicher fühlen und ständig Angst haben, sie könnte jede Sekunde entdeckt werden, liegt neben Sean Durkin aber natürlich vor allem an Elizabeth Olsen, die hier ein phantastisches, beeindruckendes Schauspieldebüt abgibt. Eine grandiose Performance, die es allein schon wert ist, sich den Film anzusehen. Auch der Rest des Ensemble liefert großartige Leistungen ab. John Hawkes habe ich ja bereits hervorgehoben, darüber hinaus fallen vor allem noch Sarah Paulson und Hugh Dancy positiv auf, deren Zusammenspiel sehr authentisch ist. Und Sean Durkin beweist in seinem Regiedebüt sowohl vor der Tastatur als auch hinter der Kamera eine sichere Hand, und inszeniert angenehm ruhig und stilvoll. Einzig Martha's Flucht setzt er ganz bewusst sehr hektisch und wackelig um, um damit zu verdeutlichen, was für Martha auf dem Spiel steht, und dass sie die zwar teils schreckliche, aber doch auch Geborgenheit des Kults hinter sich lässt, um in eine unruhige und unsichere Zukunft aufzubrechen. Gemeinsam mit der eindringlichen Filmmusik schaffen der Regisseur und seine Darsteller ein ungemein packendes, eindringliches Drama, dass für mich trotz der stillen Inszenierung mehr Angst und Bedrohlichkeit verströmt hat als so mancher Horrorfilm.
Fazit:
"Martha Marcy May Marlene" gelingt es auf grandiose Art und Weise, uns mit der Figur identifizieren und praktisch verschmelzen zu lassen. Wir beginnen immer mehr, die Welt mit ihren Augen zu sehen, und können ihre innere Zerrissenheit nachvollziehen. Neben Regisseur und Drehbuchautor Sean Durkin ist dies in erster Linie der absolut phantastischen Elizabeth Olsen zu verdanken, die bereits in ihrem Schauspieldebüt ihre beiden berühmten Zwillings-Schwestern alt aussehen lässt. Doch auch der Rest des Ensembles überzeugt, wobei vor allem John Hawkes zum wiederholten Mal mit einer grandiosen Performance zwischen verführerisch-sanft und bedrohlich-unberechenbar hervorsticht. Gemeinsam mit dem cleveren Drehbuch, dass die Rückblenden rund um Martha's Erlebnisse im Kult geschickt platziert, und uns neben dessen Schrecken auch dessen Faszination begreiflich macht, sowie der stilvoll-ruhigen Regie bar jeglicher Effekthascherei und/oder Melodramatik schaffen sie hier ein ungemein eindringliches, effektives und ergreifendes Drama über eine Frau, die versucht, ihrer Vergangenheit zu entfliehen, und nach einer traumatischen Erfahrung wieder in die Welt – und zu sich selbst – zurückzufinden.